Die Bedeutung von Werten und die Sinnlosigkeit von Vorlesungen

Prof. Dr. John Erpenbeck über die Bedeutung von Werten und die Sinnlosigkeit von Vorlesungen

Als Physiker, Philosoph und Schriftsteller ist Prof. Dr. John Erpenbeck ein wissenschaftliches Multitalent. Unter anderem auf Basis seiner jahrelangen theoretischen und empirischen Arbeit wurden die Verfahren KODE®, KODE® X und KODE® W entwickelt. Im Interview spricht Erpenbeck unter anderem darüber, was Werte sind, wie sie sich manifestieren und welche Bedeutung sie für Unternehmen haben. Außerdem verrät der noch lehrende Universitätsprofessor, warum er Vorlesungen für sinnlos hält.

Herr Prof. Dr. Erpenbeck, Sie haben sich intensiv mit dem Thema Werte und Wertemanagement auseinandergesetzt. Was sind Werte eigentlich und wofür sind sie gut? Und warum sind Werte für Kompetenzen so entscheidend?

Unsere Definition lautet: Werte sind Ordner von Selbstorganisation. Das heißt, eine Gesellschaft, ein Team, ein Unternehmen braucht Ordnungsprinzipien, nach denen es handelt. Und dieses Handeln wird eben durch Werte und natürlich durch Normen und Regeln, die daraus abgeleitet werden, bestimmt.

Werte haben einen großen Vorteil. Das kann man sich sehr leicht überlegen. Wenn Sie im Unternehmen innerhalb einer offenen Situation eine Entscheidung treffen müssen, in der sie einfach nicht alle Informationen haben und auch nicht alle Informationen bekommen, gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Die eine ist eine Münze zu werfen und zufallsmäßig zu handeln. Die andere ist, dass Sie Ihre Wertvorstellungen, die Sie aus vielen früheren Erfahrungen und Überlegungen gewonnen haben, einsetzen.

Werte überbrücken sozusagen Ihr Nicht-Wissen und ermöglichen Ihnen Entscheidungen zu treffen und zu handeln. Deshalb sind Werte unersetzlich und deshalb sind Werte Kerne von Kompetenzen. Denn Kompetenzen als kreative und selbstorganisierte Handlungsfähigkeiten sind mehr als nur das Handeln selbst. Sie sind eben eine Handlungsfähigkeit, die in solchen offenen Situationen entscheidend ist. Genau dazu braucht man die Werte. Deshalb sagen wir immer: Werte sind Kerne von Kompetenzen.

Sie haben gerade gesagt, Erfahrungen sind wichtig für Werte. Erfahrungen sammelt man im Laufe seines Lebens. Somit müssten sich ja auch die individuellen Werte regelmäßig verändern?

Ja, Werte verändern sich ständig – vom Baby an. Sie verändern sich weniger durch Belehrung, als vielmehr durch Erfahrung, Erleben und durch alles, was emotional interiorisiert wurde. Werte werden mit Emotionen abgespeichert. Erst dann werden sie wirklich wirksam. Bloß gelernte Werte sind sinnlos. Jeder Mensch kann natürlich einen Wertekatalog oder sogar Details von Wertekatalogen, wie zum Beispiel Unternehmenskulturwerte, auswendig lernen. Das heißt aber nicht, dass diese Werte in irgendeiner Weise mit seinem Handeln in Zusammenhang stehen.

Wie werden Werte gemessen und wie lassen sie sich entwickeln? Welche Vorteile haben Unternehmen davon, wenn sie Wertemanagement betreiben?

Weil Werte so bedeutsam sind, ist es wichtig, dass Unternehmen, die von ihren Mitarbeitern bestimmte Werte verlangen, auch Wertemanagement betreiben. Sie müssen ihren Mitarbeitern die Möglichkeit geben, zum einen ihre Werte und zum anderen ihre Kompetenzen zu trainieren.

Unser drittes Buch “Wertungen, Werte” ist ein Handbuch für gezielte Werteentwicklung von Persönlichkeiten. Der Kern dieses Buches ist, das Werte nur in emotional labilisierenden Situationen gelernt werden können. Das heißt, wir brauchen Situationen, in denen ein Mensch so labilisiert wird, dass er nicht nur Werte für sich entdeckt, sondern sie auch in Anwendung bringt und dadurch dann emotional verinnerlicht.

Das geht natürlich immer oder am besten, wenn diese emotionale Labilisierung relativ hoch ist. Es geht also überhaupt nicht durch Frontalunterricht. Weder in der Universität noch in der Schule. Es geht ein bisschen durch manche Arten von Training. Aber leider eben auch nicht durch alle Arten von Trainings. Wenn das Training nicht emotional labilisiert, die Leute nicht emotional mitnimmt, ist es in Bezug auf die Werte- und Kompetenzentwicklung relativ trübe.

Ganz eindeutig hingegen werden Werte gefördert durch Coaching und Mentoring. Da wird nicht Wissen vermittelt, sondern da werden Haltung und Wertorientierung vermittelt. Und natürlich ganz besonders in der Praxis selbst. Nehmen Sie eine Problemsituation in der Praxis, die hochemotional ist und einen Mitarbeiter verunsichert, labilisiert. Wenn dieser Mitarbeiter das Probleme gelöst hat, verinnerlicht er natürlich innerlich tief die Haltung und die Werte, die zu dieser Lösung geführt haben.

Sie haben es gerade schon gesagt: Werte vermittelt man nicht mit Frontalunterricht an der Hochschule. In einer der Sessions auf dem letzten KODE® Brush Up haben Sie es noch drastischer ausgedrückt: “Vorlesungen sind völlig sinnlos.”

Ja, das ist vielleicht ein bisschen zugespitzt, aber richtig. Man muss sich einfach klarmachen, dass das Prinzip der Vorlesung sinnlos ist. Vorne redet jemand und die Idee ist, dass die Leute das sozusagen wie Wissen aufnehmen und sofort abspeichern. In Wirklichkeit ist es so, dass eine Vorlesung bestenfalls eine Ermöglichung darstellt. Nämlich indem die Leute sich hinterher aus dem, was sie aufgeschrieben und nachgelesen haben, ihr eigenes Wissen aufbauen. Aber das ist und bleibt eine sehr uneffektive Methode, weil sie nicht wirklich funktioniert. Erst die Arbeit nach der Vorlesung bringt den eigentlichen Effekt.

Insofern halte ich die Vorlesung als Lernformat für weitgehend sinnlos. Die einzige Berechtigung für sie ist übrigens historisch bedingt und geht auf die Zeit um 1500 zurück, als es zu wenige Bücher gab und die Professoren ihre Bücher vorgelesen haben. Später wurde das eine ziemlich sinnlose Angelegenheit und hat sich bis heute gehalten. Mit den Möglichkeiten die der Buchdruck, das Internet und andere Medien heute bieten, ist die Vorlesung mittlerweile sehr, sehr fragwürdig geworden.

Hörsaal

Wie müsste man die akademische Bildung, bei der Vorlesungen nach wie vor vorherrschend sind, dann verändern?

Die Universität, bei der ich selber tätig bin, die School of International Business and Entrepreneurship (SIBE), ist eine duale Universität, wo die Studierenden primär in Arbeitsverhältnissen stecken, die von der Universität freilich vermittelt werden. Und diese Arbeitsverhältnisse, die entwickeln Kompetenzen en masse. Weil die Studierenden dort in reale Entscheidungs- und Entwicklungssituationen eingebunden sind. Das heißt, sie erleben zum Beispiel das Projektmanagement in der Praxis, mit all seinen Schwierigkeiten. Dazu gehört auch, dass ein Projekt mal schiefläuft, das es klemmt und Schwierigkeiten macht. Die Lösung ist also, die Theorie mit der Praxis zu verknüpfen.

Worauf basiert das Wertemessverfahren, das Sie zusammen mit Prof. Dr. Sauter entwickelt haben?

Es basiert grundsätzlich erst einmal auf dem Ansatz, dass Werte Ordner von Selbstorganisation sind. Davon ausgehend haben wir uns überlegt, was für Grundordner es gibt. Wir sind auf vier Basiswerte oder Basiscluster gekommen. Nämlich Genusswerte, Nutzenwerte, ethisch-moralische Werte und sozial-weltanschauliche Werte.

Anschließend haben wir uns zu diesen Werten überlegt, welche thematischen Begriffe und Bereiche wir denen einigermaßen vollständig zuordnen können. Wir nennen sie Domänen. Aus dieser Gesamtkonstruktion entstand dann ein relativ einfacher, relativ schnell zu bewerkstelligender Fragebogen, der natürlich auch elektronisch umgesetzt ist. Er gibt einen ersten Einblick in die Wertestruktur einer Person.

Unsere gemeinsame Meinung ist, dass man von Wertemessung nicht direkt auf Kompetenzen schließen kann. Menschen können tolle Werte haben, sind aber völlig handlungsunfähig. Wenn Sie jedoch Handlungsfähigkeiten, also Kompetenzen haben, können Sie umgekehrt darauf schließen, welche Werte denn dahinter liegen. Und das können sehr unterschiedliche Werte sein – bei gleichen Handlungsfähigkeiten.

Wenn Sie zum Beispiel eine hohe Sozialkompetenz haben, dann kann das daran liegen, dass Sie sich in einer Gruppe von Menschen einfach wohlfühlen. Es kann daran liegen, dass Sie sich Nutzen von Menschen versprechen. Es kann daran liegen, dass Sie ein guter Mensch sind und anderen helfen wollen. Und es kann daran liegen, dass Sie sozial-weltanschaulich der Meinung sind, dass man anderen helfen muss, soziale Strukturen und Ordnung aufbauen muss. Alles vier kann der Hintergrund einer hohen Sozialkompetenz sein.

Insofern ist es außerordentlich wichtig, wenn man tiefer verstehen will, welche Kompetenzen Menschen haben, den Wertehintergrund zu beleuchten. Und das kann man mit unserem Verfahren recht gut. Deswegen gehen unsere beiden Verfahren – KODE® und KODE® W – auch recht gut zusammen.

Wenn wir von den zukünftigen Herausforderungen der sich wandelnden Arbeitswelt sprechen, müssen wir auch über Arbeitsplatzverlust reden. Fakt ist, dass es viele Berufe so, wie wir sie heute kennen, in Zukunft nicht mehr geben wird. Dazu gehören nicht nur die gering qualifizierten oder schlecht bezahlten, sondern alle, die theoretisch von Algorithmen übernommen werden können. Viele Menschen werden sich beruflich umorientieren müssen. Welche Rolle spielen dabei Werte und Kompetenzen?

Nehmen Sie einfach mal jemanden, der in einer Bank arbeitet. Der Hauptpunkt ist, dass große Teile des Bankgeschäfts digitalisiert werden können und werden. Diese Teile fallen quasi als Arbeitsmöglichkeit weg. Was nicht wegfällt ist, dass immer grundlegende Entscheidungen gefällt werden müssen. Es muss also im Bankgeschäft und auch in den anderen Branchen, in denen Arbeitsplätze bedroht sind, immer Menschen geben, die kompetent sind. Und kompetent sind die Menschen, die Entscheidungen in unsicheren, offenen, disruptiven Situationen treffen können. Aber das sind bei Weitem nicht alle.

Disruption heißt, offene Situationen. Also Situation, die sozusagen von bisherigen Entwicklungen abweichen. Ganz neue Entwicklungen, deren Verlauf nicht klar ist. Disruptionen sind offene Situationen und deshalb sind eben Werte in diesen disruptiven Situationen, von denen wir immer mehr haben, besonders wichtig.

Je mehr eine Arbeit routinemäßig ist, desto eher wird sie abgelöst von Digitalisierungsprozessen. Insofern bin ich nicht der Meinung, dass der Mensch ausgebootet wird, sondern er hat andere, wenn man so will humanere Funktionen, als er sie bisher hatte. Es kommt nämlich auf ihn persönlich, auf seine Werte und Kompetenzen an.

Wie empfanden Sie das Barcamp-Konzept, das elementarer Bestandteil des letzten KODE® Brush Ups war? War es Ihr erstes Barcamp und was konnten Sie aus den Sessions für Ihre Arbeit mitnehmen?

Es war nicht mein erstes Barcamp, aber das erste auf diese Weise. Für mich war es einerseits eine Bestätigung von vielen Dingen, die wir uns in anderen Anwendungsbereichen und anderen Zusammenhängen überlegt haben. Und ein paar wertvolle Gedanken habe ich aus den Sessions natürlich auch für mich mitgenommen. Das Spannende ist ja, dass die Leute, die dabei waren, alles Leute sind, die aus der Praxis kommen. Die in der Praxis mit Kompetenzentwicklung und übrigens auch mit Wertemanagement arbeiten. Das wurde immer wieder deutlich. Insofern war das Barcamp sehr anregend für mich.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview führte Matthias Koprek für KODE®.

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