Wie Berufsschulen der Kompetenzentwicklung von Azubis im Weg stehen

Wie Berufsschulen der Kompetenzentwicklung von Azubis im Weg stehen

Ein Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft

Es ist ein wesentlicher Bestandteil für den Erfolg von deutschen Unternehmen und unserer Wirtschaft: das System der dualen Berufsausbildung. Vor allem international genießt dieses Ausbildungssystem einen hervorragenden Ruf. Die Qualifikation von Fachkräften sichert eine hohe Produktqualität und Erfolg im Export. Darüber hinaus wird die geringe Jugendarbeitslosigkeit im internationalen Vergleich auf das duale System in Deutschland zurückgeführt.

Die entscheidenden Merkmale dieses Erfolgs sind der Einbezug von Praxis und Theorie an zwei unterschiedlichen Lernorten: in der Berufsschule und im Betrieb. Die Idee ist, dass durch dieses Zusammenspiel theoretisches Wissen mit praktischem Lernen und Berufserfahrung kombiniert wird, um die Auszubildenden ideal auf die Arbeitswelt vorzubereiten.

Ist die duale Berufsausbildung noch immer so vorbildlich wie ihr Ruf?

Unser Senior KODE® Consultant Prof. Dr. Werner Sauter hat die Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP) zum Thema Berufsausbildung 2019 besucht. Die Veranstaltung beschäftigte sich mit den Herausforderungen der zunehmenden Digitalisierung der Arbeitswelt und dem Wettbewerb um die besten Auszubildenden. Sauter selbst leistete einen Beitrag zum Thema „Agile Werte- und Kompetenzentwicklung in der Berufsausbildung: Konsequenzen aus der aktuellen Hirn- und Lernforschung“.

Old School – Bulimielernen in der Berufsschule

Prof. Dr. Sauter betrachtet das Erfolgsmodell kritisch. Gerade im Bereich der Berufsausbildung beobachtet er das Festhalten an althergebrachten Unterrichtsmethoden, obwohl deren Ineffektivität bereits vielfach nachgewiesen wurde. Die Bausteine werden nach dem dualen Prinzip zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule aufgeteilt. Einerseits die Kompetenzentwicklung im Ausbildungsbetrieb und andererseits der Wissensaufbau sowie die Qualifizierung in der Berufsschule.

Fachwissen wird im Berufsschulunterricht meist im „klassischen“ Frontalunterricht dargeboten und mit Übungsphasen und Hausaufgaben kombiniert. Die eigenen Praxiserfahrungen der zumeist theorieorientierten Lehrer liegen häufig schon Jahrzehnte zurück. Gelehrt wird nach Curricula, die teilweise mehr als zwei Jahrzehnte alt sind. Weitgehend gilt Wissensweitergabe in den Berufsschulen immer noch als der Weisheit letzter Schluss und geprüft wird nach den Prinzipien des Bulimielernens: Wissen aufnehmen, in Prüfungen und Klausuren ausspucken – und sofort vergessen.

Diese Gleichsetzung von Fachkompetenz und Fachwissen steht für Sauter im starken Widerspruch zu tatsächlichem Bildungsdenken, denn am Ende der Ausbildung können die Absolventen wohlmöglich hoch qualifiziert sein und trotzdem keinerlei Kompetenzen besitzen.

Das Prüfungssystem als Blocker für Kompetenzentwicklung

Die Praxisausbildung und damit die Kompetenzentwicklung finden heute weitgehend losgelöst von den Qualifizierungsmaßnahmen im Berufsschulunterricht statt. Gegen Ende der Berufsausbildung wird das Ergebnis mit einer meist stark wissensorientierten schriftlichen und mündlichen Prüfung vor der IHK oder Handwerkskammer getestet. Obwohl diese Prüfungsergebnisse nichts über die Kompetenzen der Absolventen aussagen, wird deren Erfolg nach wie vor größtenteils daran gemessen. Diese Rahmenbedingungen und insbesondere das Prüfungssystem der dualen Berufsausbildung verhindern letztendlich eine konsequent kompetenzorientierte Ausbildungskonzeption.

Unternehmen, die versuchen, ihre Auszubildenden in einem selbstorganisierten, kompetenzorientierten Lernarrangement auszubilden, klagen darüber, dass die Kultur des eigenverantwortlichen Lernens immer wieder drastisch beeinträchtigt wird, wenn die Auszubildenden in der Berufsschulphase fremdgesteuerten Unterricht erfahren.

Dabei ist nicht nur Experten inzwischen klar, dass die Auszubildenden mittels Vorratslernen nicht auf die zukünftigen Herausforderungen einer digitalisierten Arbeitswelt vorbereitet werden können. Aber was müsste sich ändern, damit die duale Ausbildung ihrer vorbildlichen Rolle wieder gerecht werden kann?

Umdenken für die Zukunft – Was braucht das duale System?

Benötigt wird in erster Linie ein Paradigmenwechsel im Bereich der Ausbildungsziele, so Prof. Dr. Sauter. Anstelle von überladenen Curricula mit überholten Lernzielen und Inhalten, müssen Werte- und Kompetenzziele zur selbstorganisierten Bewältigung zukünftiger Herausforderungen treten. Die Auszubildenden würden dann ihre Ausbildungsziele im Rahmen von Richtzielen, die eine aktuelle und individuelle Anpassung ermöglichen, definieren. Diese Ziele würden auf Basis von Werte- und Kompetenzmessungen im Gespräch mit ihrem Ausbilder individuell und entsprechend nach ihrem persönlichen Bedarf bestimmt werden.

Eigenverantwortung und Selbstorganisation im Ausbildungsbetrieb

Das Zentrum der Ausbildung ist der Lernort Praxis. Erst bei der Bewältigung von realen Herausforderungen im Ausbildungsbetrieb können die Auszubildenden ihre Kompetenzen aufbauen und so die erforderlichen Werte als Ordner ihres selbstorganisierten Handelns verinnerlichen. Sie selbst sind dabei für ihren Lernerfolg verantwortlich. Unterstützt wird der Auszubildende durch die Lernbegleitung des Ausbilders. Sie ist Hilfe zur Selbsthilfe und hat das Ziel, sich selbst überflüssig zu machen.

Hier gilt das Prinzip des exemplarischen Lernens in Lernarrangements, die geprägt sind von Eigenverantwortung und Selbstorganisation. Erforderliches Fachwissen und notwendige Qualifikationen können sich die Auszubildenden weitgehend selbstorganisiert mit Hilfe des betrieblichen Ermöglichungsrahmens bei Bedarf aufbauen. Die Rolle der betrieblichen Ausbilder liegt darin, die Auszubildenden bei der Definition ihrer individuellen Werte- und Kompetenzziele auf Basis professioneller Messungen zu beraten. Sie sollen den betrieblichen Ermöglichungsrahmen für Erfahrungsräume selbstorganisierten Lernens in der Praxis anbieten und diese an die individuellen Erfordernisse der Auszubildenden anpassen.

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Werden die Berufsschulen zukünftig überflüssig?

Der Berufsschulunterreicht muss sich einer radikalen Wandlung unterziehen, so wie es bereits der Pädagoge Rolf Arnold treffend beschrieben hat:

„Lehren ist eine Inszenierung von Erfahrungsräumen, in denen den Lernenden Erklärungs-, Vertiefungs- und Diskussionsmöglichkeiten eröffnet werden, die sie zu ihren Bedingungen nutzen können, ohne dass diese unmittelbar auf die Lernenden einwirken oder ihre Kompetenzentwicklung ohne deren innere Zustimmung nachhaltig beeinflussen können“.

Die Berufsschulen werden in ihrer Rolle als reine „Wissensvermittler“ zukünftig überflüssig. Prof. Dr. Sauter sieht ihre Aufgabe vielmehr darin, den Aufbau betriebsübergreifender Werte und Kompetenzen zu ermöglichen.

Die Abschaffung der aktuellen Schulfächer

Zunächst sollten die heutigen Schulfächer abgeschafft und durch bedarfsgerechte Kompetenzfelder ersetzt werden, in welche zugleich die allgemeinbildenden Themen integriert werden. Um dies zu ermöglichen, sollten die Berufsschulen die Freiheit haben, diese Kompetenzfelder unter Einbezug der Ausbildungsbetriebe mit anforderungsgerechten Projekten zu füllen. Eine Möglichkeit wären beispielsweise Forschungsprojekte, die Auszubildende mit Begleitung der Berufsschullehrer selbstorganisiert bearbeiten und dabei alle Phasen einer Lösungsentwicklung durchlaufen.

Was müssen Berufsschulen wirklich leisten?

Eine zentrale Aufgabe der Berufsschulen besteht darin, einen ausbildungsbetriebs-übergreifenden Ermöglichungsrahmen zu schaffen, in welchem die Auszubildenden Instrumente zur Planung ihrer personalisierten Lernprozesse finden. Dieser Ermöglichungsrahmen sollte das gesamte nicht-betriebsspezifische Fachwissen, aber auch allgemeinbildendes Wissen in modularisierten Lernmodulen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus solle er vielfältige Tools zur Kommunikation, zum kollaborativen Arbeiten im Netz sowie zum Feedback anbieten.

Die Auszubildenden müssen die Möglichkeit haben, innerhalb der Berufsschulen Communities of Practice zu bilden, die sie dabei unterstützen, kollaborativ ihre Herausforderungen in der betrieblichen Praxis zu bewältigen. Ihre Fragen und Erfahrungen könnten die Auszubildenden so beispielsweise in offenen Lernformaten wie Barcamps einbringen und mit den Mitschülern sowie dem Berufsschullehrer bearbeiten.

So sollte die duale Ausbildung zukünftig aussehen

Die Ausbildung muss ein Spiegelbild der Lebens- und Arbeitswelt werden. Lernformen, Kommunikationsmöglichkeiten und Medien müssen dem gegenwärtigen Umfeld entsprechen oder im besten Fall sogar die Zukunft in diesem Bereich vorwegnehmen. Nur so können die Auszubildenden tatsächlich auf ihre zukünftigen Herausforderungen vorbereitet werden. Das aktuelle Modell ist ein Auslaufmodell, denn fremdorganisierte Wissensweitergabe in angeleiteter Qualifizierung und selbstorganisierter Kompetenzaufbau sind nicht miteinander vereinbar. Die Berufsausbildung muss daher primär in die Verantwortung der Auszubildenden gelegt und von Ausbildern und Berufsschullehrern begleitet werden. Die notwendige Veränderung der Denk- und Handlungsweisen aller Beteiligten an Lernprozessen wird dabei nur möglich sein, wenn sich die Strukturen grundlegend verändern.

Ein Zitat von Jack Ma, Gründer von Alibaba, beschreibt die Problematik, auch im Bereich der Berufsausbildung, treffend:

„Ändern wir nicht, wie wir unterrichten, dann haben wir in 30 Jahren große Probleme. […]

Wir können Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren. Das bisherige Bildungssystem basiert darauf, das Wissen der vergangenen 200 Jahre zu vermitteln. Für die Zukunft gleicht das aber einer Bankrotterklärung.

Kinder sollen etwas lernen, was Maschinen niemals können und was sie von diesen unterscheidet – auch in Zukunft. Beispielsweise Werte, Überzeugungen, unabhängiges Denken, Teamwork, Mitgefühl – Dinge, die nicht durch reines Wissen vermittelt werden. Alles was wir lehren, muss unterschiedlich von Maschinen sein. Wenn es Maschinen besser können, müssen wir darüber kritisch nachdenken.“

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