Die Stärken werte- und kompetenzbasierte Lernsysteme

Prof. Dr. Werner Sauter über die Schwächen vorherrschender Bildungsformate und die Stärken werte- und kompetenzbasierte Lernsysteme

Prof. Dr. Werner Sauter blickt auf ein bewegtes Berufsleben mit viele unterschiedlichen Stationen zurück. Als Senior Consultant der KODE® GmbH berät er heute vor allem Unternehmen bei der Konzipierung, Umsetzung und Implementierung werte- und kompetenzorientierter Lernsysteme. Im Interview spricht er über seine Fachbereiche Social Blended Learning und Corporate Learning, verrät warum seminaristische Bildungsformate relativ wirkungslos sind und warum die duale Ausbildung bei Weitem nicht so gut ist wie ihr Ruf.

Herr Prof. Dr. Sauter, Sie haben den Begriff des Social Blended Learning maßgeblich mitgeprägt. Was versteht man darunter?

Der Ausgangspunkt war Blended Learning, wobei Blended Learning noch zum formalen Lernen gehört. Also mit einem Curriculum relativ stark inhalts- und wissensorientiert ist. Das Blended Learning ist ja eine Mischung aus Präsenzveranstaltungen und selbstgesteuerten Phasen, wo die Lernenden mithilfe von webbasierten Trainings oder Lernvideos sich ihr Wissen und ihre Qualifikation eigenverantwortlich aufbauen.

Wir haben dieses Konzept erweitert, indem wir die Idee des Curriculums durch individuelle, personalisierte Kompetenz- und Werteziele ergänzt haben. Das heißt also, wir nutzen das Blended-Learning-Konzept, erweitern es aber, indem wir zunächst einmal mit Werte- und Kompetenzmessungen beginnen.

Danach führen wir mit den Lernenden ein Beratungsgespräch, um sie dazu zu befähigen, selbst individuelle Werte- und Kompetenzziele zu definieren. Mit diesen Zielen vor Augen vereinbaren sie dann mit ihren Führungskräften ein reales, herausforderndes Praxisprojekt. Der Lernprozess in der Selbstlernphase wird nicht mehr durch das Curriculum, sondern durch das Praxisprojekt bestimmt. Die Lernenden bearbeiten in der Selbstlernphase ihr Praxisprojekt.

Und jetzt kommt der zweite Begriff zum Blended Learning, nämlich Social, dazu. Diese Bearbeitung des Praxisprojektes erfolgt gemeinsam mit Lernpartnern, einem Tandempartner. Wir nennen das Co-Coaching. Aber auch Gruppen sind möglich, die zum Beispiel kollegiale Beratung bieten. Auf jeden Fall mit einem ganz starken Schwerpunkt auf den Bereich des sozialen Lernens. Aus der Kombination des praxis-projektorientierten Lernens und des Blended-Learning-Ansatzes ergab sich dann das Social Blended Learning.

Es geht also um das Lernen und die Weiterentwicklung im Team. Eine der großen Fragen dabei ist: Wird das ganze Team weiterentwickelt oder werden die einzelnen Teammitglieder im Team weiterentwickelt?

Ich denke, dass kann man gar nicht trennen. Wenn die einzelnen Mitglieder mit sozialem Lernen weiterentwickelt werden, also mit Lernpartnern oder einer Lerngruppe, dann wird automatisch auch ein paralleler, aber – und das ist wichtig – eigenständiger Entwicklungsprozess des Teams in Kraft gesetzt. Das heiß, ich entwickle mich einerseits auf individueller Ebene selber, als Teammitglied weiter. Aber durch die verschiedenen Entwicklungsprozesse der einzelnen Teammitglieder entsteht auch ein eigener Teamentwicklungsprozess, so dass ich dann auch in dem Team entsprechende Werte und Kompetenzen aufbaue.

Wie unterscheidet sich dieses innovative Lernsystem von den typischen, seminaristischen Lernsystemen, auf die Unternehmen bis heute mehrheitlich zurückgegriffen?

Das unterscheidet sich total. Das fängt schon bei den Zielen an. Klassischerweise hat man Inhalts- und Qualifikationsziele. Wir hingegen haben Werte- und Kompetenzziele. Wir wollen also die Handlungsfähigkeit steigern. Im klassischen Lernsystem stehen die Inhalte im Mittelpunkt. In unserem Lernsystem steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt.

Wir wollen die Menschen als Ganzes mit ihren Kompetenzen, Denkweisen und Werten entwickeln. Im klassischen Lernsystem haben wir Fremdorganisation. Das heißt, ein Lehrer, Dozent oder Trainer überlegt sich, wie er seinen Teilnehmern etwas beibringt. In unserem Lernkonzept sind die Lernenden selbstorganisiert und für ihre Lernprozesse eigenständig verantwortlich.

Natürlich ist auch die Didaktik eine ganz andere. Wir haben bisher eine Belehrungsdidaktik. Also die Idee, die Menschen durch einen Lehrer oder Trainer belehren zu können. Was sich als völlig unsinnig erwiesen hat. Wir ersetzen es bei uns deshalb durch die Ermöglichungsdidaktik, die insbesondere durch Rolf Arnold geprägt wurde. Wir basteln einen Ermöglichungsrahmen, so dass der Lernende ideale Bedingungen bekommt, um seine eigenen Kompetenzen selbstorganisiert aufzubauen.

Das sind die wesentlichen Punkte, die das neuen Lernsystem von den bisherigen unterscheidet. Es ist also nicht nur eine graduelle Veränderung, sondern es ist eine grundlegende Veränderung des Ansatzes des Lernens. In unserem Konzept wird der Lernende quasi auf Augenhöhe als eigenständig, selbstorganisiert handelnde Persönlichkeit gesehen, während er vorher quasi ein fremdgesteuertes Subjekt in irgendeinem Unterrichts- oder Trainingsarrangement war.

Wie kann man die Unternehmen davon überzeugen, auf innovative Lernsysteme wie das Social Blended Learning umzusteigen?

Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass man die Unternehmen überzeugen kann. Die Unternehmer müssen selber merken, dass ihre bisherige Seminarkonzeption völlig in die Leere geht und nicht die gewünschten Effekte bringt. Das erleben wir vor allem in Großunternehmen. Dort ist das Thema eigentlich weitestgehend durch. Nicht in allen, aber in vielen Großunternehmen. Dort stellt sich jetzt vielmehr die Frage, wie man neue Lernsysteme am besten gestaltet und umsetzt.

In kleinen und mittelständischen Unternehmen hingegen – und das ist ja die Mehrzahl – stoßen wir nach wie vor auf große Vorbehalte. So nach dem Motto: Wir haben doch ein hervorragendes Seminarkonzept. Unsere Seminare werden immer mit 1,4 oder 1,5 bewertet. Wenn man dann nachfragt, stellt man fest, dass diese Bewertung durch solche Happy Sheets, wie wir das etwas ironisch nennen, am Ende des Seminars erreicht werden. Darin werden die Teilnehmer quasi nach der Stimmung im Seminar gefragt. Der Lernerfolg kann zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht beurteilt werden.

Was muss ein Unternehmen tun, um auch seine Mitarbeiter von neuen Lernsystemen zu überzeugen?

Im Prinzip muss das Unternehmen diese einfach umsetzen. Wir gehen im Regelfall so vor, dass wir in Zusammenarbeit mit den Führungskräften, die für solche innovativen Lösungen bereits offen sind, Pilotprojekte starten. Wenn die Führungskräfte mit den Mitarbeitern spannende Projekte und Praxisaufgaben vereinbaren, die sie dann in diesem Kontext bearbeiten, dann sind die Mitarbeiter allein aus dieser Aufgabenstellung heraus hochmotiviert. Sie sind erfahrungsgemäß froh, dass sie mit dem Ermöglichungsrahmen die entsprechende Unterstützung bekommen, um ihre Herausforderungen bewältigen zu können.

Zusammen mit Prof. Dr. John Erpenbeck haben Sie sich intensiv mit dem Thema Werte auseinandergesetzt und ein weiteres Buch (“Wertungen, Werte”) dazu verfasst. Warum sind Werte für die zukünftige Arbeitswelt so essenziell?

Wir sind der Meinung, dass diese Themen zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Wir sind in der Phase der Arbeit 4.0, Digitalisierung, disruptiver Geschäftsmodelle und so weiter. Das heißt, die Arbeitswelt verändert sich radikal. Und zwar in eine Richtung, die dazu führen wird, dass die Menschen unter Nutzung digitaler Systeme immer mehr selbstorganisiert arbeiten. Und wenn sie immer mehr selbstorganisiert arbeiten, dann brauchen sie Ordner für ihr Handeln und Entscheiden.

Sie können nicht jedes Mal die Führungskraft fragen, ob sie dieses und jenes noch machen dürfen oder nicht. Sie brauchen eigene Ordner. Und wir definieren Werte als Ordner des Handelns. Deswegen sind wir fest davon überzeugt, dass das Thema Werte, Wertemessung und Wertemanagement zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Weil der Bedarf nach solchen Ordnern einfach immer größer wird.

Wie gelingt es uns mehr Praxisbezug in die akademische Bildung zu bringen? Denn es sind ja die Praxiserfahrungen, aus denen sich Werte und Kompetenzen letztlich ergeben.

Ein möglicher Ansatz für Studierende, die kein duales Studium absolvieren und somit bereits im Berufsleben sind, wäre zum Beispiel das forschende Lernen. Weg von der Idee, dass die Studierenden die früheren Forschungsergebnisse auswendig lernen müssen, damit sie diese in der Klausur ausspucken können und später wieder vergessen. Also weg vom “Bulimielernen”.

Stattdessen lernen die Studierenden in kleineren oder größeren Forschungseinrichtungen. Bei der gemeinsamen Bearbeitung von Forschungsprojekten lernen sie alles, was sie später in Unternehmen bei der Bearbeitung von schwierigen Aufgaben auch brauchen. Sie müssen ein Forschungsprojekt definieren, planen, umzusetzen und sich mit den Teammitgliedern auseinandersetzen. Sie müssen bei der Bewältigung von Forschungsaufgaben also tatsächliche Kompetenzen aufbauen.

Das ist nur ein Beispiel. Es gibt genügend Ansätze, um von der reinen Wissensbeschallung in Vorlesungen wegzukommen, hin zu kompetenzorientierten Ansätzen. Eben auch in Hochschulen, wo die Studierenden nicht aktiv im Berufsleben sind. Aber es wird leider viel zu wenig praktiziert. Es gibt nur einige wenige Lehrstühle, die so etwas machen.

Werner Sauter Workshop

Wenn der Praxisbezug in der Bildung so wichtig ist, müssten die Auszubildenden im dualen Ausbildungssystem, für das Deutschland international viel Lob erntet, ja unglaublich viele Kompetenzen aufbauen. Das ideale Bildungsmodell also?

Nein, leider nicht. Ich kenne das duale Ausbildungssystem sehr gut. Ich habe selber eine Berufsausbildung gemacht und war Berufsschullehrer. Und ich war auch an einer dualen Hochschule in Baden-Württemberg aktiv. Das Problem ist, dass das Grundkonzept falsch ist. Die Idee Berufspraxis und Studium zu verbinden ist fantastisch. Aber es wird in der dualen Ausbildung so umgesetzt, dass die Auszubildenden zum Beispiel vier Wochen zur Berufsschule gehen und dort die Theorie lernen. Anschließend gehen sie in die Praxis, die mit der Theorie, also dem vorher gelernten, im Regelfall überhaupt nichts zu tun hat. Und so wiederholt sich das immer wieder. In der dualen Hochschule ist es genauso.

Anstatt, dass man das Konzept verändert und sagt, den roten Faden des Lernens bildet die Praxisausbildung und die Lerner greifen jeweils – und das geht ja heute – für das notwendige Wissen auf die Lerntools zu, die sie benötigen, damit sie ihre Aufgaben in der Praxis bewältigen können. Also nicht Vorratslernen und dann in die Praxis gehen und ganz was anderes machen, sondern die Praxisarbeit und den Aufbau von Wissen so eng miteinander verzahnen, dass ich praktisch beim Aufbau meines Wissens dieses Wissen sofort anwende.

Wenn ich Wissen, dass ich jetzt aufnehme, sofort problemlösend anwende, dann werde ich es nachhaltig verinnerlichen und auch in drei Monaten oder einem Jahr wieder abrufen können. Denn ich habe es ja mit eigenen Erfahrungen kombiniert und dieses Wissen tatsächlich nachhaltig aufgebaut. Das Konzept der dualen Ausbildung oder des dualen Studiums ist hervorragend, wird im Regelfall aber leider sehr dilettantisch und damit auch relativ unwirksam umgesetzt.

Beim letzten EduAction Bildungsgipfel, der Leitkonferenz für die Bildung der Zukunft, haben Sie gemeinsam mit Prof. Dr. John Erpenbeck, Stephan Coester und ihrem Sohn Roman Sauter einen Workshop abgehalten. Worum ging es darin thematisch?

Dort ging es vornehmlich um das Thema Corporate Learning. Also um die Frage, wie die Lernkonzeptionen im beruflichen und betrieblichen Umfeld zukünftig gestaltet werden müssen. Genau in dem Sinne, wie ich es bei Ihren vorherigen Fragen erörtert habe.

Wir haben auf dem EduAction Gipfel drei Impulsvorträge gehalten und zu den darin beleuchteten Aspekten danach jeweils einen Workshop abgehalten. Darin wurden mit den Teilnehmern praxiserprobte Lösungen diskutiert, wie zum Beispiel die Werte- und Kompetenzmessung sowie -entwicklung. Dabei ging es aber auch um die Frage, die Sie gerade vollkommen zurecht gestellt haben. Nämlich darum wie es gelingt, die Mitarbeiter mitzunehmen und diese Systeme in den Unternehmen erfolgreich zu implementieren.

Beim letzten KODE® Brush Up wurde auf Ihr Bestreben hin erstmals ein integriertes Barcamp veranstaltet. Wieso war Ihnen das so wichtig und wie zufrieden sind Sie mit den Resultaten aus den Sessions des Barcamps?

Ich erleben seit sechs, sieben Jahren Barcamps – insbesondere im Rahmen der Corporate Learning Community. Wir führen da jedes Jahr enorm erfolgreich und mit wachsendem Zuspruch Corporate Learning Camps durch, die als Barcamp gestaltet sind. Ich erlebe einfach wie fruchtbar das ist und wie dankbar die Teilnehmer, die wir ja dann Teilgeber nennen, sind. Weil sie einfach ihre eigenen Frage- und Problemstellungen einbringen können. Beim Corporate Learning Camp haben wir jetzt schon über Jahre eine gewissen Kultur aufgebaut. Das heißt, die Teilnehmer, die dorthin kommen, wissen ganz genau, was sie erwartet. Die bringen ihre Themen gezielt mit. Dort funktioniert das ganz hervorragend.

Obwohl wir diese Kultur beim KODE® Brush Up natürlich noch nicht haben, war ich mit dem Barcamp wirklich zufrieden. Denn wir hatten ja eine Gruppe, die mit dieser Methodik zum Großteil noch nicht vertraut war. Die sich vermutlich im Vorfeld auch kaum Gedanken über die Themen gemacht hat. Insofern war ich dann doch sehr positiv überrascht, was für spannende Themen vorgeschlagen wurden.

Ich war ja selbst auch in zwei Sessions aktiv dabei und habe hochspannende und nutzenbringe Diskussionen miterlebt. Deswegen bin ich mit unserem ersten Barcamp wirklich sehr zufrieden und hoffe, dass wir das in Zukunft so weiterführen werden. Zumal man dann davon ausgehen kann, dass die Teilnehmer schon ganz anders in das zweite Barcamp hineingehen, weil sie schon erste Erfahrungen aus dem letzten Jahr mitbringen. Sie machen sich dann bereits im Vorfeld Gedanken, statt erst vor Ort.

Insofern haben wir hier durchaus ein Format, das es ermöglicht, genau auf die Bedürfnisse der Teilnehmer einzugehen. Bisher haben wir es immer so gestaltet, dass wir uns überlegt haben, was könnten denn die Teilnehmer für Fragen haben. Und daraus haben wir dann die Themen für die Referate und so weiter gestaltet. Jetzt kehren wir das um und die Teilnehmer sagen selbst, was sie für Wünsche haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview führte Matthias Koprek für KODE®.

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